Es gibt Bücher, die bleiben. Die tauchen immer wieder auf, rutschen einem wie zufällig in die Hände, als wollten sie sagen:
Ich bin noch da. Und du?

Für mich ist Das kleine Ich bin Ich von Mira Lobe und Susi Weigl – erschienen im Jungbrunnen Verlag – so ein Buch. Ich weiß nicht mehr, wann ich es zum ersten Mal in Händen hielt – irgendwann in meiner frühen Kindheit. Ich bin 1978 geboren, und dieses Buch begleitet mich, seit ich denken kann. Ich habe es mehrfach besessen, verschenkt, vorgelesen – meinen Kindern, fremden Kindern. Es ist ein vertrauter Rhythmus aus Reimen und Wiederholung, fast wie ein Lied, das man nie vergisst.
Aber als Kind war es gar nicht die Geschichte, die mich so beschäftigt hat. Es war diese knallpinke erste Seite mit einer Anleitung: So kannst du dein eigenes kleines Ich bin Ich nähen.
Ich wollte das unbedingt machen. Ich habe mir Stoff zurechtgelegt, Watte zusammengesucht, bunte Fäden bereitgelegt. Aber meine Mutter hatte keine Zeit. Die alte Singer-Nähmaschine, die sie mir hinstellte, funktionierte nicht. Ich habe es wieder weggelegt. Ein paar Monate oder Jahre später wieder hervorgeholt. Wieder versucht. Wieder nicht geschafft.
Es ist fast absurd, wie dieses Nicht-Funktionieren meines kleinen Ich bin Ich für vieles stand. Ich habe als Kind oft das Gefühl gehabt, nicht dazuzugehören. Ich war eher einsam, eher traurig, sehr nachdenklich. Ich wollte irgendwo reinpassen, wollte wissen, wo ich hingehöre – genau wie das kleine Ich bin Ich im Buch. Und genau wie bei ihm hat das mit dem Fitting in nicht funktioniert.
Fitting in – das schmerzhafte Puzzle
Sich anpassen, irgendwo hineinpassen – das ist eine leise Gewalt, die oft übersehen wird. Fitting in bedeutet, die eigenen Kanten zu schleifen, um in ein vorgefertigtes Muster zu passen. Ein bisschen weniger dies, ein bisschen mehr das. Stillhalten, anpassen, unsichtbar machen. Es ist ein Prozess der Reduktion, des Sich-Einfügens, um dazuzugehören – oder wenigstens nicht aufzufallen.
Gerade in der Kunstwelt, aber auch im Alltag, wird oft unbewusst erwartet, dass wir uns einer bestimmten Ästhetik, einem Diskurs, einer Haltung anpassen. Sichtbarkeit ist an Codes geknüpft. Wer sich außerhalb der Norm bewegt, bleibt oft genau dort – außen.
Ein Leben lang kein kleines Ich bin Ich
Ich habe mein kleines Ich bin Ich nie genäht. Und vor ein paar Wochen habe ich es noch einmal versucht – diesmal mit generativer Künstlicher Intelligenz. Ich wollte mit midourney ein kleines Ich bin Ich generieren. Aber midjourney kannte das Buch nicht. Ich bekam seltsame, unpassende Bilder, aber kein buntes, fröhliches kleines Ich bin Ich. Und wirklich Zeit, um „ordentlich“ zu prompten wollte ich mir nicht nehmen.
Alos: wieder nicht.
Vielleicht ist das auch ein Spiegel meines Lebens: dieser ständige Wechsel zwischen Fitting in – also irgendwo dazugehören wollen – und Belonging – einfach sein dürfen. Ich wollte dazugehören, wollte auch ein Papagei sein oder ein Fisch oder ein Hund, so wie das kleine Ich bin Ich es versucht. Aber am Ende geht es doch nur um eines: das Gefühl, dass man existieren darf. Dass man nicht weggeht.
Belonging – ein Ort, der uns hält
Belonging ist anders. Es bedeutet nicht, sich passend zu machen, sondern einen Platz zu finden, an dem wir sein können, wie wir sind. Es ist das Gefühl von Zuhause – nicht an einen Ort gebunden, sondern an eine Art des Seins.
Das Kleine Ich bin Ich erkennt am Ende, dass es nicht definieren muss, wem oder was es gleicht, um existenzberechtigt zu sein. Es ist. Und das reicht.
Doch das reicht nicht immer. Wir leben in einer Welt, in der Identität oft nach äußeren Kategorien bewertet wird. Wo Zugehörigkeit nicht selbstverständlich ist, sondern mit Regeln, Bedingungen, Erwartungen verknüpft ist. Die Frage „Wo gehöre ich hin?“ bleibt oft unbeantwortet – oder schmerzhaft offen.
„Ich bin Ich.“
Das Ende des Buches war für mich immer faszinierend. Das kleine Ich bin Ich hat endlich verstanden, dass es kein Pferd ist und kein Schaf, sondern einfach Ich bin Ich. Und dann passiert etwas Entscheidendes:
Es geht zurück zu den anderen, voll Selbstbewusstsein, und ruft: Kennt ihr mich? Ich bin Ich!
Und was passiert? Die Tiere fangen nicht an, es infrage zu stellen. Niemand sagt: „Aber das ist doch kein richtiger Name!“ oder „Das reicht nicht als Identität!“ oder „Entscheide dich mal!“
Nein.
Der kleine Laubfrosch schaut es an und quakt: Du bist du. Und wer das nicht weiß, ist dumm.
Es ist so simpel. Und gleichzeitig ist es genau das, was wir vergessen: dass Suchen etwas Normales ist. Dass nichts passiert, wenn man Dinge auf seine eigene Art tut. Dass das Ringen mit Identität, mit Zugehörigkeit, mit dem Wunsch, gesehen zu werden – dass all das einfach dazugehört.
Ich habe mein kleines Ich bin Ich nie genäht. Aber die Beschäftigung damit – über Jahrzehnte hinweg – hat einen Sinn.
Und irgendwann macht das alles Sinn.
Ich muss nicht hineinpassen. Ich muss kein Pferd sein, kein Laubfrosch.
Ich bin Ich bin Ich.
Ohne Modalverb. Ohne Einschränkung. Ohne Fragezeichen.
Buchhinweis:
Lobe, M., & Weigl, S. (1972). Das kleine Ich bin Ich. Jungbrunnen.
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