Über die Etiketten, die wir tragen

Der Barcode ist ein Symbol für Standardisierung und Nachverfolgbarkeit – ursprünglich für kommerzielle Produkte entwickelt. Er besteht aus einer maschinenlesbaren Anordnung von Strichen und Zahlen, die zur Identifizierung von Produkten oder Objekten dient. In der Wirtschaft ermöglicht er die effiziente Verwaltung von Warenströmen, indem er Informationen wie Preis, Herkunft oder Bestand speichert. Dieses System der Klassifizierung und Kontrolle stellt sicher, dass jedes Produkt eindeutig zugeordnet und verfolgt werden kann.
Wenn ein Barcode – dieses Prinzip – auf Menschen übertragen wird, führt es zu einer Kategorisierung, die Identitäten auf ein Produkt reduziert und unsere Wahrnehmung von Identität und Individualität beeinflusst.
Das Konzept des „Barcoded Baby“, wie es zum Beispiel der tschechische Künstler David Černý mit seiner Skulpturenreihe „Babies“ (miminka) dargestellt hat, regt zur Reflexion an. Die Babys mit Barcodes anstelle von Gesichtern stellen eine Frage: Sind wir mehr als die Etiketten, die uns die Gesellschaft aufdrückt?

Die Barcodes auf den Gesichtern symbolisieren die Reduktion auf Daten, Kategorien und Stereotypen. Es ist eine Erinnerung daran, wie leicht unsere Einzigartigkeit verloren gehen kann, wenn wir nur als Produkte eines Systems gesehen werden. Černý zeigt auf provokative Weise, wie kulturelle und soziale Normen uns in Schubladen stecken, die uns nicht gerecht werden.
Eine interessante Perspektive auf diese Schubladen bietet unter vielen anderen die Theorie der „possible selves“ von Hazel Markus und Paula Nurius (In: American Psychologist, September 1986). Ihre Theorie zeigt, dass wir nicht nur eine statische Identität haben, sondern viele potenzielle Versionen von uns selbst in uns tragen:
- Wer wir sein könnten,
- wer wir sein möchten,
- und wer wir fürchten zu werden.
Diese Versionen sind eng mit unseren Hoffnungen, Ängsten und den Erwartungen der Gesellschaft verbunden. Sie beeinflussen unser Handeln und formen, was wir als realistisch oder unerreichbar betrachten.
Wir alle tragen unsichtbare Barcodes – gescannt, kategorisiert, etikettiert. Manche dieser Etiketten nehmen wir an, andere fühlen sich an wie schwere Lasten, die wir nie gewählt haben. Sie formen, wie wir gesehen werden, was von uns erwartet wird und manchmal auch, wie wir uns selbst sehen.
Und was ist mein Barcode?
Wenn die Gesellschaft mich als Produkt etikettieren würde, sähe meine Kennzeichnung so aus:
- Frau und Feministin – Es wird erwartet, dass ich stark, unabhängig und widerstandsfähig bin, ohne Raum für Zweifel oder Schwäche.
- Geschiedene Mutter von drei Kindern – Die Erwartung, alles makellos zu bewältigen, um zu beweisen, dass die Entscheidung zur Trennung richtig war. Es wird angenommen, dass ich mich bedingungslos aufopfere und immer alles im Griff habe.
- Versorgerin – Ich soll unermüdlich, geduldig und vollkommen aufopfernd sein, egal wie hoch der persönliche Preis ist.
- Intellektuelle und Dozentin – Ich werde als ernst, kompetent und souverän wahrgenommen, jemand, der alles weiß und unter Kontrolle hat.
- Künstlerin – Oft werde ich in die Rolle der „struggling artist“ gedrängt – exzentrisch, finanziell instabil, entweder grandios oder unsichtbar. Diese Erwartung passt nicht zu meinen anderen Rollen als Mutter und Wissenschaftlerin.
- Angestellte – Die Erwartung, genauso effizient und verfügbar zu sein wie Kolleg:innen ohne Kinder oder Mehrfachbelastungen.
- Muslimin ohne Kopftuch – Zwischen kulturellen und religiösen Normen festgelegt, ohne wirklich hineinzupassen.
- Introvertierte mit Sehnsucht nach Zugehörigkeit – Menschen erwarten, dass ich soziale Kontakte aktiv pflege, obwohl ich oft zu erschöpft bin, um Freundschaften langfristig zu halten.

Wie stark wird mein Selbstbild von diesen Etiketten beeinflusst?
Lange Zeit wurde mein Selbstbild durch die Notwendigkeit geformt, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Meine Fähigkeit, „alles im Griff zu haben“, wurde zum Maßstab meines Wertes. Die Gesellschaft sieht in mir die unabhängige Mutter, die starke Frau, die unfehlbare Intellektuelle – und das alles, ohne Anzeichen von Überforderung oder Müdigkeit.
Ich weigere mich, nur durch diese Barcodes definiert zu werden.
Hier kommt das Konzept der Möglichkeits-Selbst (possible selves) ins Spiel. Was ist mit der Version meiner selbst, die sich eine Pause gönnen darf? Die sich auf ihr künstlerisches Schaffen konzentriert, ohne sich rechtfertigen zu müssen? Die nicht immer alles im Griff haben muss? Diese alternative Version von mir gibt mir Raum, Identität nicht als festgelegte Rolle zu sehen, sondern als etwas, das sich ständig entwickelt.
Es ist nicht leicht, sich von diesen Barcodes zu lösen. Viele davon sind so tief verwurzelt, dass sie Teil unseres Denkens werden, manchmal ohne dass wir es merken. Doch die Vorstellung, dass wir alternative Versionen von uns selbst schaffen können, ist befreiend. Es erlaubt uns, unser Selbstbild zu erweitern und die Kontrolle über unsere Identität zurückzugewinnen.
Die Konsequenzen dieser Barcodes
Diese Etiketten sind nicht nur äußere Erwartungen – sie wirken tief in unser Inneres. Sie haben mich unabhängig, widerstandsfähig und anpassungsfähig gemacht – oft aus Notwendigkeit, nicht aus freier Wahl. Gleichzeitig haben sie mich isoliert. Freundschaften habe ich abgebrochen, nicht aus Desinteresse, sondern aus Erschöpfung. Als Künstlerin frage ich mich manchmal, ob meine Arbeit zählt, wenn sie nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von Erfolg entspricht.
Doch indem ich diese Barcodes hinterfrage, finde ich Freiheit. Ich bin nicht die Mutter, die perfekte Geburtstagsfeiern organisiert. Ich bin nicht die Angestellte, die ihr Leben strikt trennt. Ich bin nicht die Frau, die in ein vorgefertigtes Erfolgskonzept passt.
Lücken symbolisieren Räume, in denen neue Identitäten entstehen können.
Die Theorie der Möglichkeits-Selbst zeigt, dass unser aktuelles Selbstbild nur ein kleiner Ausschnitt dessen ist, was wir sein können. Indem wir alternative Selbstbilder entwickeln – jenseits der Erwartungen der Gesellschaft – erschaffen wir uns eine neue Realität. Die Angst vor dem „fehlenden Selbst“ wird zur Freude an der offenen Zukunft. Und diese Freude erlaubt uns, in den Lücken zwischen den Barcodes unsere wahre Identität zu finden.
Das Neuschreiben des Barcodes
Ich bin mehr als mein gesellschaftlicher Barcode. Ich bin Prozess statt Produkt. Ich finde Bedeutung in den Lücken, in den Räumen, in denen Definitionen versagen. Ich bin Disruption, Neugier und Schöpfung. Und das bist du auch.
Zum Weiterdenken:
The Barcoded Baby (PDF), von Dr. Vicky Karaiskou, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0.
Zum Weiterlesen:
- Markus, H., & Nurius, P. (1986). Possible selves. American Psychologist, 41(9), 954–969. https://doi.org/10.1037/0003-066X.41.9.954
Bildnachweise:
- Mister No, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons
- „Barcoded Baby“ – Bild entnommen aus The Barcoded Baby (PDF), von Dr. Vicky Karaiskou, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0.
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