Kategorie: Reflexion & Essays

Persönliche und philosophische Reflexionen über Wahrnehmung, Resonanz und Kunst als Erkenntnisprozess. Essays über Kreativität, Intuition und die Schnittstellen zwischen Kunst & Identität & Gesellschaft.

  • Kunst gegen die Ohnmacht – und für die Präsenz: Ein Plädoyer fürs Kunstmachen

    Kunst gegen die Ohnmacht – und für die Präsenz: Ein Plädoyer fürs Kunstmachen

    „Die Wahrheit ist hässlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“ – Friedrich Nietzsche

    Manchmal fühlt es sich an, als ob niemand zuhört. Die Welt rauscht an uns vorbei, ein endloser Strom von Lärm, Erwartungen und Leerstellen. Wir schreien – vielleicht innerlich, vielleicht ganz laut – und hören nur unser eigenes Echo. Aber was, wenn dieses Echo nicht nur ein Zeichen von Einsamkeit ist, sondern ein Beweis für unsere Präsenz? Ein Beweis dafür, dass wir da sind, dass wir gestalten, dass wir wirken?

    Das ist die Kraft der Kunst.

    Kunst als Antithese zur Ohnmacht

    Kunst ist das Gegenteil von Resignation, von der Kapitulation vor dem Chaos und der Sinnlosigkeit. Sie ist nicht nur ein Ausdruck von Resilienz, sondern ihre Grundlage. Wer Kunst macht, handelt – und durch dieses Handeln entsteht Bedeutung. Dabei ist es nicht der Output allein, der zählt: die fertige Leinwand, das geschnittene Video, der veröffentlichte Text. Es ist der Prozess selbst, der uns zeigt, dass wir können, dass wir sind.

    Kunst als Kampf gegen das Nichts

    In der Mathematik gibt es keine Leere – selbst ein Leerzeichen hat eine Funktion. Und genau so ist es auch in der Kunst: Abwesenheit wird zur Anwesenheit. Das, was fehlt, spricht. Wenn wir die scheinbare Leere gestalten – auf Papier, in einem Raum, in einem Gedanken –, dann bezeugen wir unsere Existenz. Es ist ein Akt des Widerstands gegen die Unsichtbarkeit, gegen die Hilflosigkeit, gegen die Langeweile, die uns erstickt.

    Aber warum überhaupt? Was ist der Sinn, wenn niemand zuhört?

    Vielleicht ist Kunst nicht dazu da, Antworten zu geben. Vielleicht ist Kunst vielmehr eine Frage, die wir der Welt stellen – und manchmal auch eine, die wir uns selbst stellen. Eine Frage nach Relevanz, nach Einfluss, nach Sichtbarkeit. Und indem wir fragen, indem wir gestalten, indem wir einen Moment innehalten, schaffen wir Sinn.

    Kunst als Weg zur Präsenz

    Kunst muss nicht perfekt sein. Sie muss nicht laut sein. Sie muss nicht gefallen. Aber sie muss sein. Sie hat die einzigartige Fähigkeit, uns aus unserer Machtlosigkeit zu reißen, indem sie uns erinnert, dass wir handeln können. Jeder Pinselstrich, jedes geschnittene Bild, jeder Schritt auf einem leeren Blatt ist ein Beweis für unsere Handlungsfähigkeit.

    Kunst zu machen ist ein Dialog – auch wenn er manchmal ein Monolog scheint. Es ist ein Gespräch mit der Welt, mit der Zeit, mit uns selbst. Kunst ist ein Ort, an dem die unsichtbaren Dinge Gestalt annehmen, an dem das Unaussprechliche eine Form findet, an dem das Unmögliche möglich wird.

    Kunst für das Leben

    Vielleicht ist Kunst auch ein Spiegel des Lebens: moody, widersprüchlich, oft sinnlos und doch zutiefst bedeutend. Sie zeigt uns, dass es okay ist, nicht immer zu wissen, warum wir etwas tun. Dass es okay ist, zu zweifeln, zu scheitern, neu anzufangen. Der Akt des Kunstmachens selbst ist die Botschaft: Du bist hier. Du bist relevant. Du kannst.

    Und genau deshalb ist Kunst wichtig. Und genau deshalb ist das Kunstmachen noch viel wichtiger. Es ist unser Weg, dem Nichts eine Form zu geben und der Welt ein Zeichen unserer Anwesenheit zu hinterlassen – auch wenn wir manchmal glauben, dass niemand zuhört.

    Vielleicht hört niemand zu. Aber vielleicht ist das auch nicht wirklich wichtig.

  • Fitting in & Belonging – Teil 4: Und dann?

    Fitting in & Belonging – Teil 4: Und dann?

    In Teil 1 dieser Serie habe ich darüber geschrieben, was es bedeutet, dazuzugehören, ohne sich anpassen zu müssen. In Teil 2 ging es um die Suche nach Identität im Außen – und warum andere uns nie wirklich sagen können, wer wir sind. In Teil 3 habe ich die Frage gestellt, was passiert, wenn wir aufhören, um Erlaubnis zu fragen, und Kunst einfach machen.

    Doch was passiert nach der Erkenntnis, dass „Ich bin Ich“?

    Es gibt keine Fortsetzung von Das kleine Ich bin Ich. Kein Band 2, kein „Und dann?“ – die Geschichte endet mit der großen Erkenntnis:

    „Aber natürlich gibt es mich! Ich bin Ich!“

    Und dann?

    Es ist fast wie in klassischen Märchen oder Disney-Filmen: Die Geschichte führt zur entscheidenden Erkenntnis, zum Happy End – und genau dort endet sie. Die Herausforderungen, die danach kommen, bleiben unbehandelt.

    Vielleicht ist das auch der Grund, warum viele von uns mit einer vagen Leerstelle zurückbleiben. Wer uns sagt, wer wir sind, sagt uns oft nicht, was wir dann damit machen sollen.

    Wie könnte ein Band 2 von Das kleine Ich bin Ich aussehen?

    Die nächste Herausforderung: Identität ist kein statischer Zustand

    Die erste Erkenntnis – Ich bin Ich – ist eine Befreiung. Ein Bruch mit der Unsicherheit. Aber sie ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang.

    Denn Identität ist kein fixer Punkt. Sie verändert sich, wächst, passt sich an, bricht wieder auseinander.

    Was wäre, wenn das kleine Ich bin Ich irgendwann merkt:

    • Ich bin Ich – aber was bedeutet das in einer Welt, die sich ständig verändert?
    • Ich bin Ich – aber wer bin ich in Gemeinschaft mit anderen?
    • Ich bin Ich – aber was, wenn ich mich irgendwann selbst infrage stelle?

    Identität ist keine abgeschlossene Erkenntnis. Sie ist ein Prozess.

    Fünf mögliche Fortsetzungen – Wie könnte Band 2 aussehen?

    Welche Herausforderungen könnten nach der großen Erkenntnis kommen? Welche Themen könnten eine Fortsetzung sinnvoll machen? Hier sind fünf verschiedene Möglichkeiten – inspiriert von existierenden literarischen Motiven, aber neu gedacht.

    Nach der großen Erkenntnis beginnt das kleine Ich bin Ich, seine Identität in der Welt zu testen. Es weiß jetzt, dass es existiert – aber wo gehört es hin?

    • Es sucht nach Gleichgesinnten, anderen „Ich bin Ichs“.
    • Es probiert verschiedene Rollen aus: Ist es eine Anführerin? Eine Künstlerin? Eine Abenteurerin?
    • Es merkt, dass es manchmal seine Identität anpassen muss, um in einer Gruppe zu funktionieren – doch wie viel Anpassung ist zu viel?

    ➡️ Inspiriert von Momo (Michael Ende) – die Suche nach einer Gemeinschaft, die einen so akzeptiert, wie man ist.

    Eines Tages merkt das kleine Ich bin Ich, dass es sich nicht mehr ganz so fühlt wie früher. Seine Farben sind anders, seine Muster verschieben sich.

    • Es bekommt Angst, seine Identität zu verlieren.
    • Andere sagen: „Früher warst du doch anders!“
    • Es kämpft mit der Unsicherheit, ob Veränderung etwas Schlechtes ist oder ein natürlicher Prozess.

    ➡️ Inspiriert von Der Golem (Gustav Meyrink) – die Frage, was Identität ist, wenn sie sich wandelt.

    Trotz seiner Erkenntnis fühlt sich das kleine Ich bin Ich oft unsichtbar.

    • Es weiß, dass es existiert – aber niemand schenkt ihm Beachtung.
    • Es fragt sich, ob Sichtbarkeit wichtig ist, um wirklich da zu sein.
    • Es experimentiert: Muss es lauter sein? Anders sein? Oder reicht es, einfach nur zu sein?

    ➡️ Inspiriert von Die Stadt der träumenden Bücher (Walter Moers) – die Idee, dass es nicht nur um die Existenz geht, sondern um Ausdruck und Wahrnehmung.

    Nachdem das kleine Ich bin Ich seine eigene Identität gefunden hat, trifft es andere, die ebenfalls einzigartig sind.

    • Es merkt, dass Identität nicht nur in Abgrenzung, sondern auch in Verbindung entsteht.
    • Aber wie kann es ein starkes „Ich“ sein, ohne sich in einem „Wir“ zu verlieren?
    • Die große Frage: Ist Individualität wichtiger als Zugehörigkeit – oder braucht es beides?

    ➡️ Inspiriert von Die unendliche Geschichte (Michael Ende) – die Balance zwischen Selbst und Gemeinschaft.

    Das kleine Ich bin Ich steht eines Tages vor einer riesigen, offenen Welt. Keine Fragen mehr. Keine Unsicherheiten. Es kann tun, was es will.

    • Aber was fängt es mit dieser Freiheit an?
    • Ohne Regeln und Strukturen kann es alles sein – aber ist das nicht auch überwältigend?
    • Es sucht nach einer Antwort auf die Frage: Wenn alles möglich ist – was will ich dann wirklich?

    ➡️ Inspiriert von Der kleine Prinz (Antoine de Saint-Exupéry) – die Auseinandersetzung mit Sinn und Selbstbestimmung.

    Welche Geschichte würde dich am meisten interessieren?

    Jede dieser Fortsetzungen könnte ein eigenes Band 2 sein.

    Aber vielleicht ist das genau die Magie von Das kleine Ich bin Ich: Es lässt die Zukunft offen.

    Es gibt uns keine vorgefertigte Antwort, sondern die Möglichkeit, selbst weiterzudenken.

    Und vielleicht ist das „Und dann?“ nicht die entscheidende Frage.

    Vielleicht geht es immer darum:

    „Und jetzt?“


    Lobe, M., & Weigl, S. (1972). Das kleine Ich bin Ich. Jungbrunnen.

  • Fitting in & Belonging – Teil 3: Kunst ohne Erlaubnis

    Fitting in & Belonging – Teil 3: Kunst ohne Erlaubnis

    In Teil 1 dieser Blogserie habe ich darüber geschrieben, was es bedeutet, dazuzugehören, ohne sich anpassen zu müssen. In Teil 2 ging es um die Suche nach Identität im Außen – und warum andere uns nie wirklich sagen können, wer wir sind.

    Doch was passiert, wenn wir als Künstler:innen und Kreative aufhören, im Außen nach Antworten zu suchen?

    Es gibt einen Moment in Das kleine Ich bin Ich, der alles verändert. Einen Moment, in dem die Verzweiflung auf dem Höhepunkt ist.

    Das kleine bunte Wesen ist erschöpft. Es hat gefragt, verglichen, sich an äußeren Kategorien abgearbeitet. Und dann kommt der Moment der Stille. Kein neuer Versuch, keine weitere Analyse. Nur eine Erkenntnis, aus dem Nichts:

    „Aber natürlich gibt es mich! Ich bin Ich!“

    Es ist dieser Moment, der mich als Künstlerin besonders beschäftigt. Denn was passiert, wenn wir aufhören, uns von außen sagen zu lassen, was richtig ist? Was passiert, wenn wir aufhören, uns über Regeln, Bestätigung oder äußere Strukturen zu definieren?

    Was passiert, wenn wir Kunst ohne Erlaubnis machen?

    Die Unsicherheit des freien Schaffens

    Kunst ist Freiheit. Und doch ist sie oft mit Unsicherheit behaftet.

    Gerade als autodidaktische Künstlerin kenne ich das Gefühl, nicht „genug“ zu sein. Kein Studium, keine offizielle Ausbildung – also auch keine äußere Instanz, die mir bestätigt, dass ich es „richtig“ mache.

    Diese Unsicherheit ist nicht nur individuell. Sie ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Der Glaube, dass es einen richtigen Weg gibt. Eine Methode, eine Technik, eine Meisterschaft, die von anderen validiert werden muss.

    Doch wer soll mir eigentlich sagen, ob das, was ich mache, „gut“ oder „schlecht“ ist?

    Wenn ich ein Bild male – wer außer mir entscheidet, ob Blau und Rot zusammenpassen oder nicht?

    Die Prägung der äußeren Stimmen

    Ich erinnere mich an den Kindergarten. Mein Lieblingsstift war der doppelte Blau-Rot-Stift. Ich liebte diese Kombination. Sie war für mich selbstverständlich, harmonisch.

    Aber meine Kindergärtnerin sagte:

    „Blau und Rot passen nicht zusammen.“

    Ich weiß noch, wie irritiert ich war. Warum nicht? Für mich passte es doch. Aber da war eine Autoritätsperson, die mir sagte, dass meine Wahrnehmung nicht korrekt war.

    Solche Momente hinterlassen Spuren. Sie prägen uns, manchmal subtil, manchmal massiv. Wir lernen, dass es „richtige“ und „falsche“ Entscheidungen gibt. Dass bestimmte Kombinationen gehen – und andere nicht.

    Und genau da setzt Kunst an.

    Kunst beginnt da, wo Regeln aufhören

    Je kreativer wir sind, desto mehr um die Ecke denken wir.

    Künstlerisches Schaffen bedeutet nicht, blind gegen Regeln zu arbeiten – aber es bedeutet, sie bewusst zu hinterfragen. Was passiert, wenn wir Materialien nicht so verwenden, wie es die Verpackung vorgibt? Was passiert, wenn wir Komplementärfarben ignorieren? Was passiert, wenn wir die Dinge nicht so machen, wie es „gelehrt“ wird?

    In Wahrheit liegt genau dort das Potenzial für Neues.

    Kunst ist kein Handbuch. Sie ist ein Raum, in dem alles möglich ist.

    Doch dieser Raum ist beängstigend. Denn wenn wir keine äußere Erlaubnis mehr brauchen, gibt es auch niemanden mehr, der sagt:

    „Gut gemacht!“

    Navigieren ohne äußere Bestätigung

    Das ist der Punkt, an dem viele Künstler:innen zögern.

    Denn wenn niemand da ist, der unsere Entscheidungen bewertet – was bleibt dann?

    Es bleibt nur unser eigenes Empfinden. Unser eigenes Urteil.

    Und das ist schwer auszuhalten.

    Wir sind gewohnt, uns an anderen zu messen. An Techniken, an Stilen, an Trends. Wir wollen wissen, ob das, was wir tun, Bestand hat.

    Doch was wäre, wenn wir uns erlauben, einfach zu tun?

    Schöpfen aus Fülle, nicht aus Mangel

    Unsicherheit kommt oft aus einem Gefühl des Mangels.

    Nicht genug Technik, nicht genug Wissen, nicht genug Talent.

    Aber was wäre, wenn wir stattdessen aus Fülle schöpfen?

    Statt zu denken:
    „Ich bin keine ausgebildete Künstlerin, also fehlt mir etwas,“
    einfach sagen:
    „Ich bin Künstlerin, also mache ich Kunst.“

    Statt zu fragen:
    „Darf ich das?“
    einfach tun.

    Statt uns mit anderen zu vergleichen,
    einfach mit uns selbst arbeiten.

    Die wahre Freiheit liegt im Tun

    Wenn wir aufhören, im Außen nach Bestätigung zu suchen, passiert Folgendes:

    • Wir hören auf, uns selbst kleinzumachen.
    • Wir erlauben uns, anders zu sein.
    • Wir vertrauen unserer Intuition.
    • Wir machen Kunst, die aus uns selbst kommt – nicht aus äußeren Erwartungen.

    Das kleine Ich bin Ich musste keinen neuen Namen finden. Es musste sich nicht anpassen, um akzeptiert zu werden. Es musste nur erkennen, dass es existiert.

    Und genau das gilt für künstlerisches Schaffen.

    Deine Kunst existiert.

    Du musst sie nicht erklären.
    Du musst sie nicht rechtfertigen.
    Du musst sie nur machen.

    Ohne Erlaubnis.


    Literaturhinweis: Lobe, M., & Weigl, S. (1972). Das kleine Ich bin Ich. Jungbrunnen.

  • Fitting in & Belonging – Teil 2: Wer bin ich und warum uns andere diese Frage nicht beantworten können

    Fitting in & Belonging – Teil 2: Wer bin ich und warum uns andere diese Frage nicht beantworten können

    Im ersten Teil dieser Blogserie über Das kleine Ich bin Ich ging es um Fitting in und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Darum, dass wir oft versuchen, uns in bestehende Formen einzupassen, bis wir erkennen: Ich bin Ich.

    Aber da ist noch mehr.

    Denn Das kleine Ich bin Ich macht eine Reise. Eine Suche. Und es gibt in dieser Geschichte nicht nur eine Erkenntnis, sondern mehrere:

    Es gibt einen Moment in Das kleine Ich bin Ich, den ich besonders bemerkenswert finde.

    Am Anfang gibt es keinen Zweifel. Das kleine, bunte Wesen lebt einfach. Es geht spazieren, freut sich an der Welt, existiert.

    Doch dann kommt eine Stimme von außen:

    „Wer bist denn du?“

    Eine harmlose Frage? Vielleicht.
    Aber sie verändert alles.

    Plötzlich ist die Unbefangenheit verschwunden. Plötzlich stellt sich das kleine Ich bin Ich selbst infrage. Es beginnt zu suchen, zu vergleichen, sich an anderen zu messen.

    Und genau hier beginnt ein Prozess, den viele von uns kennen: die Suche nach Identität im Außen.

    Wenn die Welt uns sagt, wer wir sind

    Was tun wir, wenn wir nicht sicher sind, wer wir sind?
    Wir fragen.
    Wir beobachten.
    Wir suchen nach einer Bestätigung von außen.

    Das kleine Ich bin Ich zieht los und fragt die anderen Tiere:

    • „Bin ich ein Pferd?“
    • „Bin ich ein Fisch?“
    • „Bin ich ein Papagei?“

    Doch alle antworten nur aus ihrer eigenen Perspektive:

    • „Du hast keine Hufe, also bist du kein Pferd.“
    • „Du kannst nicht schwimmen, also bist du kein Fisch.“
    • „Du bist nicht so bunt wie ich, also bist du kein Papagei.“

    Das kleine Ich bin Ich wird immer unsicherer.
    Mit jeder Antwort wird klarer, was es nicht ist – aber nicht, was es ist.

    Die Grenzen der Fremdwahrnehmung

    Hier steckt eine tiefe Wahrheit.

    Wie oft definieren wir uns über die Wahrnehmung anderer?
    Wie oft vergleichen wir uns mit fremden Maßstäben?
    Wie oft hoffen wir, dass jemand anders uns endlich sagt: „Das bist du!“

    Doch genau wie im Buch gibt es da ein Problem:

    • Andere Menschen sehen uns immer durch ihre eigene Linse.
    • Sie definieren uns oft über das, was ihnen wichtig ist.
    • Sie vergleichen uns mit sich selbst – nicht mit dem, was wir wirklich sind.

    Wenn wir uns zu sehr auf äußere Definitionen verlassen, verlieren wir uns selbst.

    Das kleine Ich bin Ich versucht, sich über den Blick der anderen zu verstehen – und scheitert.
    Bis es schließlich zu einer existenziellen Frage kommt:

    „Gibt es mich vielleicht gar nicht?“

    Ein Moment der Verzweiflung. Ein völliger Identitätsverlust.

    Warum die wahre Antwort in uns liegt

    Doch genau an diesem Punkt geschieht etwas Magisches.

    Es hört auf, zu fragen.
    Es hört auf, sich zu vergleichen.
    Es bleibt einfach still.

    Und dann, fast wie aus dem Nichts, kommt die Erkenntnis:

    „Aber natürlich gibt es mich! Ich bin Ich!“

    Niemand hat ihm diese Antwort gegeben.
    Kein Tier, keine äußere Stimme, keine Bestätigung von außen.

    Diese Erkenntnis kommt von innen.

    Und das ist der entscheidende Punkt:

    Identität ist keine Definition, die uns jemand anders geben kann.
    Identität ist etwas, das wir selbst anerkennen müssen.

    Warum wir uns nach Bestätigung sehnen – und warum sie uns nicht definiert

    Viele von uns kennen dieses Gefühl.
    Wir suchen nach Rollen, Zugehörigkeit, einem Platz in der Welt.

    Manchmal in unseren Beziehungen.
    Manchmal in unserer Arbeit.
    Manchmal in gesellschaftlichen Erwartungen.

    Wir hoffen, dass uns jemand sagt:

    • „Ja, du bist gut so, wie du bist.“
    • „Ja, das ist der richtige Weg für dich.“
    • „Ja, du passt genau hierhin.“

    Doch wenn wir uns nur über äußere Bestätigung definieren, sind wir verletzlich.
    Denn was passiert, wenn sie ausbleibt?

    Was, wenn niemand sagt: „Gut gemacht“?

    Dann sind wir genau dort, wo das kleine Ich bin Ich kurz vor seiner Erkenntnis war – verloren.

    Sich selbst genügen

    Das kleine Ich bin Ich kommt mit seiner Erkenntnis zurück zu den anderen Tieren.
    Es verkündet stolz:

    „Kennt ihr mich? Ich bin Ich!“

    Und dann passiert etwas Erstaunliches.

    Niemand widerspricht.
    Niemand fragt weiter.
    Niemand verlangt eine weitere Erklärung.

    Sogar der Laubfrosch, der die Unsicherheit ausgelöst hat, quakt nur:

    „Du bist du. Und wer das nicht weiß, ist dumm.“
    – Der Laubfrosch in Das kleine Ich bin Ich

    Als ob es nie eine Frage gewesen wäre.

    Und vielleicht ist das die tiefste Wahrheit von allen:

    Wenn wir selbst akzeptieren, wer wir sind, dann tun es oft auch andere.

    Und wenn nicht?

    Dann ist es trotzdem wahr.

    Ich bin Ich.

    Ohne Erklärung. Ohne Erlaubnis. Ohne Vergleich.

    Einfach so.


    Literaturhinweis: Lobe, M., & Weigl, S. (1972). Das kleine Ich bin Ich. Jungbrunnen.

  • Fitting in & Belonging – Teil 1: Warum „Das kleine Ich bin Ich“ mich nie losgelassen hat

    Fitting in & Belonging – Teil 1: Warum „Das kleine Ich bin Ich“ mich nie losgelassen hat

    Es gibt Bücher, die bleiben. Die tauchen immer wieder auf, rutschen einem wie zufällig in die Hände, als wollten sie sagen:

    Ich bin noch da. Und du?

    Für mich ist Das kleine Ich bin Ich von Mira Lobe und Susi Weigl – erschienen im Jungbrunnen Verlag – so ein Buch. Ich weiß nicht mehr, wann ich es zum ersten Mal in Händen hielt – irgendwann in meiner frühen Kindheit. Ich bin 1978 geboren, und dieses Buch begleitet mich, seit ich denken kann. Ich habe es mehrfach besessen, verschenkt, vorgelesen – meinen Kindern, fremden Kindern. Es ist ein vertrauter Rhythmus aus Reimen und Wiederholung, fast wie ein Lied, das man nie vergisst.

    Aber als Kind war es gar nicht die Geschichte, die mich so beschäftigt hat. Es war diese knallpinke erste Seite mit einer Anleitung: So kannst du dein eigenes kleines Ich bin Ich nähen.

    Ich wollte das unbedingt machen. Ich habe mir Stoff zurechtgelegt, Watte zusammengesucht, bunte Fäden bereitgelegt. Aber meine Mutter hatte keine Zeit. Die alte Singer-Nähmaschine, die sie mir hinstellte, funktionierte nicht. Ich habe es wieder weggelegt. Ein paar Monate oder Jahre später wieder hervorgeholt. Wieder versucht. Wieder nicht geschafft.

    Es ist fast absurd, wie dieses Nicht-Funktionieren meines kleinen Ich bin Ich für vieles stand. Ich habe als Kind oft das Gefühl gehabt, nicht dazuzugehören. Ich war eher einsam, eher traurig, sehr nachdenklich. Ich wollte irgendwo reinpassen, wollte wissen, wo ich hingehöre – genau wie das kleine Ich bin Ich im Buch. Und genau wie bei ihm hat das mit dem Fitting in nicht funktioniert.

    Fitting in – das schmerzhafte Puzzle

    Sich anpassen, irgendwo hineinpassen – das ist eine leise Gewalt, die oft übersehen wird. Fitting in bedeutet, die eigenen Kanten zu schleifen, um in ein vorgefertigtes Muster zu passen. Ein bisschen weniger dies, ein bisschen mehr das. Stillhalten, anpassen, unsichtbar machen. Es ist ein Prozess der Reduktion, des Sich-Einfügens, um dazuzugehören – oder wenigstens nicht aufzufallen.

    Gerade in der Kunstwelt, aber auch im Alltag, wird oft unbewusst erwartet, dass wir uns einer bestimmten Ästhetik, einem Diskurs, einer Haltung anpassen. Sichtbarkeit ist an Codes geknüpft. Wer sich außerhalb der Norm bewegt, bleibt oft genau dort – außen.

    Ein Leben lang kein kleines Ich bin Ich

    Ich habe mein kleines Ich bin Ich nie genäht. Und vor ein paar Wochen habe ich es noch einmal versucht – diesmal mit generativer Künstlicher Intelligenz. Ich wollte mit midourney ein kleines Ich bin Ich generieren. Aber midjourney kannte das Buch nicht. Ich bekam seltsame, unpassende Bilder, aber kein buntes, fröhliches kleines Ich bin Ich. Und wirklich Zeit, um „ordentlich“ zu prompten wollte ich mir nicht nehmen.

    Alos: wieder nicht.

    Vielleicht ist das auch ein Spiegel meines Lebens: dieser ständige Wechsel zwischen Fitting in – also irgendwo dazugehören wollen – und Belonging – einfach sein dürfen. Ich wollte dazugehören, wollte auch ein Papagei sein oder ein Fisch oder ein Hund, so wie das kleine Ich bin Ich es versucht. Aber am Ende geht es doch nur um eines: das Gefühl, dass man existieren darf. Dass man nicht weggeht.

    Belonging – ein Ort, der uns hält

    Belonging ist anders. Es bedeutet nicht, sich passend zu machen, sondern einen Platz zu finden, an dem wir sein können, wie wir sind. Es ist das Gefühl von Zuhause – nicht an einen Ort gebunden, sondern an eine Art des Seins.

    Das Kleine Ich bin Ich erkennt am Ende, dass es nicht definieren muss, wem oder was es gleicht, um existenzberechtigt zu sein. Es ist. Und das reicht.

    Doch das reicht nicht immer. Wir leben in einer Welt, in der Identität oft nach äußeren Kategorien bewertet wird. Wo Zugehörigkeit nicht selbstverständlich ist, sondern mit Regeln, Bedingungen, Erwartungen verknüpft ist. Die Frage „Wo gehöre ich hin?“ bleibt oft unbeantwortet – oder schmerzhaft offen.

    „Ich bin Ich.“

    Das Ende des Buches war für mich immer faszinierend. Das kleine Ich bin Ich hat endlich verstanden, dass es kein Pferd ist und kein Schaf, sondern einfach Ich bin Ich. Und dann passiert etwas Entscheidendes:

    Es geht zurück zu den anderen, voll Selbstbewusstsein, und ruft: Kennt ihr mich? Ich bin Ich!

    Und was passiert? Die Tiere fangen nicht an, es infrage zu stellen. Niemand sagt: „Aber das ist doch kein richtiger Name!“ oder „Das reicht nicht als Identität!“ oder „Entscheide dich mal!“

    Nein.

    Der kleine Laubfrosch schaut es an und quakt: Du bist du. Und wer das nicht weiß, ist dumm.

    Es ist so simpel. Und gleichzeitig ist es genau das, was wir vergessen: dass Suchen etwas Normales ist. Dass nichts passiert, wenn man Dinge auf seine eigene Art tut. Dass das Ringen mit Identität, mit Zugehörigkeit, mit dem Wunsch, gesehen zu werden – dass all das einfach dazugehört.

    Ich habe mein kleines Ich bin Ich nie genäht. Aber die Beschäftigung damit – über Jahrzehnte hinweg – hat einen Sinn.

    Und irgendwann macht das alles Sinn.

    Ich muss nicht hineinpassen. Ich muss kein Pferd sein, kein Laubfrosch.

    Ich bin Ich bin Ich.

    Ohne Modalverb. Ohne Einschränkung. Ohne Fragezeichen.


    Buchhinweis:

    Lobe, M., & Weigl, S. (1972). Das kleine Ich bin Ich. Jungbrunnen.

  • Wer oder was ist im Raum? Annahmen und die Möglichkeits-Selbst

    Wer oder was ist im Raum? Annahmen und die Möglichkeits-Selbst

    Die unsichtbaren Annahmen, die uns prägen

    Assumptions – Annahmen – sie sind wie Schatten, die uns begleiten, oft unbemerkt, aber immer wirksam. Wir alle tragen sie, wenn wir kommunizieren, wenn wir handeln, wenn wir Kunst machen. Sie beeinflussen, wie wir die Welt sehen und wie wir selbst gesehen werden. Doch wie oft hinterfragen wir sie? Wer oder vor allem was ist wirklich „im Raum“, wenn wir sprechen, wenn wir erschaffen?

    Der unsichtbare Elefant – Annahmen in der Kommunikation

    „Der Elefant im Raum“ – eine Metapher für das Offensichtliche, das unausgesprochene Thema, das alle spüren, aber niemand benennt. Doch manchmal sind es nicht die Probleme, sondern unsere Annahmen, die den Raum füllen. Wir gehen davon aus, dass unser Gegenüber unsere Perspektive teilt, dass unsere Worte genauso gehört werden, wie wir sie meinen. Doch jede Kommunikation ist durchzogen von unsichtbaren Filtern – geformt durch unsere Erfahrungen, unsere Kultur, unsere Erwartungen.

    Die Lücke zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten

    Wenn wir uns in einem Gespräch falsch verstanden fühlen, liegt es selten nur an den Worten. Es liegt an den Annahmen, die uns leiten: Was wir glauben, dass gesagt wurde, was wir denken, dass der andere verstanden hat, und was wir unausgesprochen voraussetzen. Diese unsichtbaren Barrieren formen unsere Wahrnehmung und lassen uns oft aneinander vorbeireden.

    Assumptions im kreativen Prozess – Wer entscheidet, was Kunst ist?

    Die stillschweigenden Regeln der Kunstwelt

    Auch in der Kunst sind Annahmen tief verwurzelt. Wer oder was bestimmt, was als Kunst gilt? Ist es die Geschichte, die wir über ein Werk erzählen, oder das Werk selbst? Muss Kunst sichtbar sein, um zu existieren? Und ist eine kreative Idee nur dann wertvoll, wenn sie in eine etablierte Form passt?

    Die Annahmen, die wir über Kunst haben, sind oft historisch gewachsen, verankert in Institutionen und Märkten. Der „leidende Künstler“, der „Genie-Kult“, die Vorstellung, dass wahre Kunst in finanzieller Entbehrung entsteht – all das sind Narrative, die nicht zufällig existieren. Sie formen, wie wir Kunst bewerten, wie wir Künstler:innen wahrnehmen und wie wir unsere eigenen kreativen Prozesse erleben.

    Dekonstruktion und der Raum für neue Ideen

    Doch was passiert, wenn wir diese Annahmen bewusst dekonstruieren? Wenn wir Kunst nicht als etwas betrachten, das sich beweisen muss, sondern als eine natürliche Erweiterung unseres Denkens, als eine Art des Fragens, nicht des Antwortens? Was wäre, wenn wir akzeptieren, dass Kunst nicht immer ein fertiges Produkt sein muss, sondern auch Prozess, Suche, Lücke sein kann?

    Das „erschaffene Selbst“ – Wer bin ich, wenn ich mich selbst erschaffe?

    Inayatullahs Konzept der Zukunftsdeutung (Deconstructing and Reconstructing the Future) zeigt, dass wir unsere eigene Identität oft als gegeben betrachten, obwohl sie vielmehr ein Produkt von Narrativen und sozialen Konstruktionen ist. Unsere Vergangenheit, unsere Kultur, unsere Erziehung – all das formt unser Bild davon, wer wir sind und wer wir sein können.

    Die Macht der Möglichkeits-Selbst

    Aber was ist mit den Versionen von uns selbst, die wir noch nicht entdeckt haben? Was ist mit den ungelebten Möglichkeiten, den Selbstbildern, die außerhalb der gesellschaftlichen Annahmen existieren? In Markus’ und Nurius’ Theorie der Möglichkeits-Selbst (possible selves) wird betont, dass wir nicht nur eine feste Identität haben, sondern ein Netz aus möglichen Identitäten – einige, die uns antreiben, andere, die uns ängstigen.

    Unsere Annahmen über uns selbst sind oft die stärksten Grenzen. „Ich bin nicht kreativ genug“, „Ich bin nicht mutig genug“, „Ich gehöre nicht hierher“. Doch was, wenn diese Annahmen keine Wahrheiten sind, sondern nur Erzählungen? Wenn wir uns von diesen alten Narrativen lösen, entsteht Raum für ein neues Selbst, für das, was wir noch werden könnten.

    Wer oder was ist wirklich im Raum?

    Wenn wir beginnen, unsere Annahmen zu hinterfragen, wird der Raum weiter. Die Unsichtbaren werden sichtbar. Die Alternativen werden denkbar. In der Kunst, in der Kommunikation, in unserem Selbstbild. Vielleicht ist der wahre „Elefant im Raum“ nicht das, was wir vermeiden auszusprechen, sondern das, was wir nie zu hinterfragen wagen.

    Was passiert, wenn wir unsere Annahmen loslassen? Was bleibt bestehen, wenn wir sie dekonstruieren? Vielleicht nur eine Lücke – und vielleicht ist genau diese Lücke der Ort, an dem neue Möglichkeiten entstehen.

    Jenseits von non-judgmental – ein neuer Blick auf Annahmen

    Ich habe oft das Wort „non-judgmental“ benutzt, um meinen Zugang zur Welt zu beschreiben. Doch was bedeutet es wirklich? „Non“ ist eine Negation – es setzt voraus, dass das Urteil bereits existiert. Dass die Grundannahme eine bewertende ist, die dann bewusst zurückgenommen wird. Doch was wäre, wenn es einen Zugang gäbe, der nicht erst das Urteil aufhebt, sondern in eine grundlegend andere Perspektive führt? Eine Haltung, die nicht von einem Verzicht auf Wertung ausgeht, sondern von einer Offenheit für das, was sein könnte?

    Vielleicht ist die Frage nicht: Wie kann ich aufhören zu urteilen? Sondern: Wie kann ich lernen, in Möglichkeiten zu denken?

  • Barcodes der Identität und die Möglichkeits-Selbst

    Barcodes der Identität und die Möglichkeits-Selbst

    Über die Etiketten, die wir tragen

    „Barcoded Baby“ – Bild entnommen aus The Barcoded Baby (PDF), von Dr. Vicky Karaiskou, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0.

    Der Barcode ist ein Symbol für Standardisierung und Nachverfolgbarkeit – ursprünglich für kommerzielle Produkte entwickelt. Er besteht aus einer maschinenlesbaren Anordnung von Strichen und Zahlen, die zur Identifizierung von Produkten oder Objekten dient. In der Wirtschaft ermöglicht er die effiziente Verwaltung von Warenströmen, indem er Informationen wie Preis, Herkunft oder Bestand speichert. Dieses System der Klassifizierung und Kontrolle stellt sicher, dass jedes Produkt eindeutig zugeordnet und verfolgt werden kann.

    Wenn ein Barcode – dieses Prinzip – auf Menschen übertragen wird, führt es zu einer Kategorisierung, die Identitäten auf ein Produkt reduziert und unsere Wahrnehmung von Identität und Individualität beeinflusst.

    Das Konzept des „Barcoded Baby“, wie es zum Beispiel der tschechische Künstler David Černý mit seiner Skulpturenreihe „Babies“ (miminka) dargestellt hat, regt zur Reflexion an. Die Babys mit Barcodes anstelle von Gesichtern stellen eine Frage: Sind wir mehr als die Etiketten, die uns die Gesellschaft aufdrückt?

    David Černý – Bronze sculptures installed outside Museum Kampa, 2015

    Die Barcodes auf den Gesichtern symbolisieren die Reduktion auf Daten, Kategorien und Stereotypen. Es ist eine Erinnerung daran, wie leicht unsere Einzigartigkeit verloren gehen kann, wenn wir nur als Produkte eines Systems gesehen werden. Černý zeigt auf provokative Weise, wie kulturelle und soziale Normen uns in Schubladen stecken, die uns nicht gerecht werden.

    Eine interessante Perspektive auf diese Schubladen bietet unter vielen anderen die Theorie der „possible selves“ von Hazel Markus und Paula Nurius (In: American Psychologist, September 1986). Ihre Theorie zeigt, dass wir nicht nur eine statische Identität haben, sondern viele potenzielle Versionen von uns selbst in uns tragen:

    • Wer wir sein könnten,
    • wer wir sein möchten,
    • und wer wir fürchten zu werden.

    Diese Versionen sind eng mit unseren Hoffnungen, Ängsten und den Erwartungen der Gesellschaft verbunden. Sie beeinflussen unser Handeln und formen, was wir als realistisch oder unerreichbar betrachten.

    Wir alle tragen unsichtbare Barcodes – gescannt, kategorisiert, etikettiert. Manche dieser Etiketten nehmen wir an, andere fühlen sich an wie schwere Lasten, die wir nie gewählt haben. Sie formen, wie wir gesehen werden, was von uns erwartet wird und manchmal auch, wie wir uns selbst sehen.

    Und was ist mein Barcode?

    Wenn die Gesellschaft mich als Produkt etikettieren würde, sähe meine Kennzeichnung so aus:

    • Frau und Feministin – Es wird erwartet, dass ich stark, unabhängig und widerstandsfähig bin, ohne Raum für Zweifel oder Schwäche.
    • Geschiedene Mutter von drei Kindern – Die Erwartung, alles makellos zu bewältigen, um zu beweisen, dass die Entscheidung zur Trennung richtig war. Es wird angenommen, dass ich mich bedingungslos aufopfere und immer alles im Griff habe.
    • Versorgerin – Ich soll unermüdlich, geduldig und vollkommen aufopfernd sein, egal wie hoch der persönliche Preis ist.
    • Intellektuelle und Dozentin – Ich werde als ernst, kompetent und souverän wahrgenommen, jemand, der alles weiß und unter Kontrolle hat.
    • Künstlerin – Oft werde ich in die Rolle der „struggling artist“ gedrängt – exzentrisch, finanziell instabil, entweder grandios oder unsichtbar. Diese Erwartung passt nicht zu meinen anderen Rollen als Mutter und Wissenschaftlerin.
    • Angestellte – Die Erwartung, genauso effizient und verfügbar zu sein wie Kolleg:innen ohne Kinder oder Mehrfachbelastungen.
    • Muslimin ohne Kopftuch – Zwischen kulturellen und religiösen Normen festgelegt, ohne wirklich hineinzupassen.
    • Introvertierte mit Sehnsucht nach Zugehörigkeit – Menschen erwarten, dass ich soziale Kontakte aktiv pflege, obwohl ich oft zu erschöpft bin, um Freundschaften langfristig zu halten.

    Wie stark wird mein Selbstbild von diesen Etiketten beeinflusst?

    Lange Zeit wurde mein Selbstbild durch die Notwendigkeit geformt, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Meine Fähigkeit, „alles im Griff zu haben“, wurde zum Maßstab meines Wertes. Die Gesellschaft sieht in mir die unabhängige Mutter, die starke Frau, die unfehlbare Intellektuelle – und das alles, ohne Anzeichen von Überforderung oder Müdigkeit.

    Ich weigere mich, nur durch diese Barcodes definiert zu werden.

    Hier kommt das Konzept der Möglichkeits-Selbst (possible selves) ins Spiel. Was ist mit der Version meiner selbst, die sich eine Pause gönnen darf? Die sich auf ihr künstlerisches Schaffen konzentriert, ohne sich rechtfertigen zu müssen? Die nicht immer alles im Griff haben muss? Diese alternative Version von mir gibt mir Raum, Identität nicht als festgelegte Rolle zu sehen, sondern als etwas, das sich ständig entwickelt.

    Es ist nicht leicht, sich von diesen Barcodes zu lösen. Viele davon sind so tief verwurzelt, dass sie Teil unseres Denkens werden, manchmal ohne dass wir es merken. Doch die Vorstellung, dass wir alternative Versionen von uns selbst schaffen können, ist befreiend. Es erlaubt uns, unser Selbstbild zu erweitern und die Kontrolle über unsere Identität zurückzugewinnen.

    Die Konsequenzen dieser Barcodes

    Diese Etiketten sind nicht nur äußere Erwartungen – sie wirken tief in unser Inneres. Sie haben mich unabhängig, widerstandsfähig und anpassungsfähig gemacht – oft aus Notwendigkeit, nicht aus freier Wahl. Gleichzeitig haben sie mich isoliert. Freundschaften habe ich abgebrochen, nicht aus Desinteresse, sondern aus Erschöpfung. Als Künstlerin frage ich mich manchmal, ob meine Arbeit zählt, wenn sie nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen von Erfolg entspricht.

    Doch indem ich diese Barcodes hinterfrage, finde ich Freiheit. Ich bin nicht die Mutter, die perfekte Geburtstagsfeiern organisiert. Ich bin nicht die Angestellte, die ihr Leben strikt trennt. Ich bin nicht die Frau, die in ein vorgefertigtes Erfolgskonzept passt.

    Lücken symbolisieren Räume, in denen neue Identitäten entstehen können.

    Die Theorie der Möglichkeits-Selbst zeigt, dass unser aktuelles Selbstbild nur ein kleiner Ausschnitt dessen ist, was wir sein können. Indem wir alternative Selbstbilder entwickeln – jenseits der Erwartungen der Gesellschaft – erschaffen wir uns eine neue Realität. Die Angst vor dem „fehlenden Selbst“ wird zur Freude an der offenen Zukunft. Und diese Freude erlaubt uns, in den Lücken zwischen den Barcodes unsere wahre Identität zu finden.

    Das Neuschreiben des Barcodes

    Ich bin mehr als mein gesellschaftlicher Barcode. Ich bin Prozess statt Produkt. Ich finde Bedeutung in den Lücken, in den Räumen, in denen Definitionen versagen. Ich bin Disruption, Neugier und Schöpfung. Und das bist du auch.


    Zum Weiterdenken:

    The Barcoded Baby (PDF), von Dr. Vicky Karaiskou, lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0.

    Zum Weiterlesen:

    Bildnachweise: