Wer oder was ist im Raum? Annahmen und die Möglichkeits-Selbst

Die unsichtbaren Annahmen, die uns prägen

Assumptions – Annahmen – sie sind wie Schatten, die uns begleiten, oft unbemerkt, aber immer wirksam. Wir alle tragen sie, wenn wir kommunizieren, wenn wir handeln, wenn wir Kunst machen. Sie beeinflussen, wie wir die Welt sehen und wie wir selbst gesehen werden. Doch wie oft hinterfragen wir sie? Wer oder vor allem was ist wirklich „im Raum“, wenn wir sprechen, wenn wir erschaffen?

Der unsichtbare Elefant – Annahmen in der Kommunikation

„Der Elefant im Raum“ – eine Metapher für das Offensichtliche, das unausgesprochene Thema, das alle spüren, aber niemand benennt. Doch manchmal sind es nicht die Probleme, sondern unsere Annahmen, die den Raum füllen. Wir gehen davon aus, dass unser Gegenüber unsere Perspektive teilt, dass unsere Worte genauso gehört werden, wie wir sie meinen. Doch jede Kommunikation ist durchzogen von unsichtbaren Filtern – geformt durch unsere Erfahrungen, unsere Kultur, unsere Erwartungen.

Die Lücke zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten

Wenn wir uns in einem Gespräch falsch verstanden fühlen, liegt es selten nur an den Worten. Es liegt an den Annahmen, die uns leiten: Was wir glauben, dass gesagt wurde, was wir denken, dass der andere verstanden hat, und was wir unausgesprochen voraussetzen. Diese unsichtbaren Barrieren formen unsere Wahrnehmung und lassen uns oft aneinander vorbeireden.

Assumptions im kreativen Prozess – Wer entscheidet, was Kunst ist?

Die stillschweigenden Regeln der Kunstwelt

Auch in der Kunst sind Annahmen tief verwurzelt. Wer oder was bestimmt, was als Kunst gilt? Ist es die Geschichte, die wir über ein Werk erzählen, oder das Werk selbst? Muss Kunst sichtbar sein, um zu existieren? Und ist eine kreative Idee nur dann wertvoll, wenn sie in eine etablierte Form passt?

Die Annahmen, die wir über Kunst haben, sind oft historisch gewachsen, verankert in Institutionen und Märkten. Der „leidende Künstler“, der „Genie-Kult“, die Vorstellung, dass wahre Kunst in finanzieller Entbehrung entsteht – all das sind Narrative, die nicht zufällig existieren. Sie formen, wie wir Kunst bewerten, wie wir Künstler:innen wahrnehmen und wie wir unsere eigenen kreativen Prozesse erleben.

Dekonstruktion und der Raum für neue Ideen

Doch was passiert, wenn wir diese Annahmen bewusst dekonstruieren? Wenn wir Kunst nicht als etwas betrachten, das sich beweisen muss, sondern als eine natürliche Erweiterung unseres Denkens, als eine Art des Fragens, nicht des Antwortens? Was wäre, wenn wir akzeptieren, dass Kunst nicht immer ein fertiges Produkt sein muss, sondern auch Prozess, Suche, Lücke sein kann?

Das „erschaffene Selbst“ – Wer bin ich, wenn ich mich selbst erschaffe?

Inayatullahs Konzept der Zukunftsdeutung (Deconstructing and Reconstructing the Future) zeigt, dass wir unsere eigene Identität oft als gegeben betrachten, obwohl sie vielmehr ein Produkt von Narrativen und sozialen Konstruktionen ist. Unsere Vergangenheit, unsere Kultur, unsere Erziehung – all das formt unser Bild davon, wer wir sind und wer wir sein können.

Die Macht der Möglichkeits-Selbst

Aber was ist mit den Versionen von uns selbst, die wir noch nicht entdeckt haben? Was ist mit den ungelebten Möglichkeiten, den Selbstbildern, die außerhalb der gesellschaftlichen Annahmen existieren? In Markus’ und Nurius’ Theorie der Möglichkeits-Selbst (possible selves) wird betont, dass wir nicht nur eine feste Identität haben, sondern ein Netz aus möglichen Identitäten – einige, die uns antreiben, andere, die uns ängstigen.

Unsere Annahmen über uns selbst sind oft die stärksten Grenzen. „Ich bin nicht kreativ genug“, „Ich bin nicht mutig genug“, „Ich gehöre nicht hierher“. Doch was, wenn diese Annahmen keine Wahrheiten sind, sondern nur Erzählungen? Wenn wir uns von diesen alten Narrativen lösen, entsteht Raum für ein neues Selbst, für das, was wir noch werden könnten.

Wer oder was ist wirklich im Raum?

Wenn wir beginnen, unsere Annahmen zu hinterfragen, wird der Raum weiter. Die Unsichtbaren werden sichtbar. Die Alternativen werden denkbar. In der Kunst, in der Kommunikation, in unserem Selbstbild. Vielleicht ist der wahre „Elefant im Raum“ nicht das, was wir vermeiden auszusprechen, sondern das, was wir nie zu hinterfragen wagen.

Was passiert, wenn wir unsere Annahmen loslassen? Was bleibt bestehen, wenn wir sie dekonstruieren? Vielleicht nur eine Lücke – und vielleicht ist genau diese Lücke der Ort, an dem neue Möglichkeiten entstehen.

Jenseits von non-judgmental – ein neuer Blick auf Annahmen

Ich habe oft das Wort „non-judgmental“ benutzt, um meinen Zugang zur Welt zu beschreiben. Doch was bedeutet es wirklich? „Non“ ist eine Negation – es setzt voraus, dass das Urteil bereits existiert. Dass die Grundannahme eine bewertende ist, die dann bewusst zurückgenommen wird. Doch was wäre, wenn es einen Zugang gäbe, der nicht erst das Urteil aufhebt, sondern in eine grundlegend andere Perspektive führt? Eine Haltung, die nicht von einem Verzicht auf Wertung ausgeht, sondern von einer Offenheit für das, was sein könnte?

Vielleicht ist die Frage nicht: Wie kann ich aufhören zu urteilen? Sondern: Wie kann ich lernen, in Möglichkeiten zu denken?

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