Wachsen aus dem Nichts

In der Antike kannte man das „Horror Vacui“ – die Angst vor der Leere. Die Vorstellung, dass die Natur ein Vakuum nicht ertragen könne und es mit aller Kraft zu füllen versuche. Heute wissen wir: Die Leere ist kein Horror. Sie ist ein Segen. Ein notwendiger Raum für das, was kommen will.

Es beginnt immer mit einem Bruch, einer Leerstelle, einem Vakuum, in dem vorher etwas war – und plötzlich nicht mehr ist. Ich habe dieses Gefühl so oft in meinem Leben erlebt, dieses Fallen ins Nichts, wenn Sicherheiten verschwinden.

Die Psychologie kennt dieses wunderbare Phänomen, das anfangs so paradox erscheint und doch eine tiefe Wahrheit birgt: Post-traumatisches Wachstum. Wenn wir Menschen etwas verlieren – einen Glauben, eine Beziehung, eine Identität oder eine Gewissheit – kann genau in dieser vermeintlichen Lücke etwas Neues entstehen und gedeihen. Nicht trotz, sondern gerade wegen des Verlusts entfaltet sich oft eine neue Dimension des Seins.

Ein Samen keimt im Dunkeln, ohne Licht, ohne Wärme, nur in der stillen Abwesenheit. Manchmal muss ich mich daran erinnern, dass die wertvollsten Transformationen im Verborgenen beginnen.

Flowering nothing_1 | midjourney 2025

Der Psychoanalytiker D.W. Winnicott prägte diesen wunderbaren Begriff des „Übergangsraums“ – ein psychischer Raum zwischen dem Selbst und der Welt, in dem wir spielen, erschaffen und uns transformieren können. Es ist ein faszinierender Nicht-Ort, der weder ganz innen noch vollständig außen existiert, ein scheinbares Nichts, das doch alles ermöglicht und in dem unsere tiefste Kreativität ihren Ursprung hat.

Dieser Übergangsraum, in dem wir das Nichts aushalten und dadurch wachsen können, hat eine faszinierende Parallele in der politischen Philosophie. Hannah Arendt, die große Denkerin der Freiheit, spricht von einem ähnlichen Phänomen: dem „Zwischen“ als dem Ort, an dem Politik überhaupt erst entstehen kann. „Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen“, schreibt sie, „also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz.“

Beide, Winnicott und Arendt, erkunden jene fragilen Räume, in denen wir dem Nichts begegnen können, ohne von ihm verschlungen zu werden. Räume, in denen wir nicht in Allmacht schwelgen, aber auch nicht in Ohnmacht versinken – sondern in denen wir spielen, erschaffen, uns begegnen können.

In habe nach vielen Verlusten der verschiedensten Art gelernt, dass Schweigen keine Leere ist, kein unangenehmer Moment, den wir füllen müssen. Es ist viel mehr ein Container, ein Gefäß, das geduldig das Ungesagte hält – all das, was noch keine Form gefunden hat, aber danach drängt, gesehen zu werden. Die größten Erkenntnisse geschehen oft genau dort, wo nichts gesagt wird, wo die Stille als aktive Kraft wirken kann und Raum für Neues schafft.

Was Winnicott für die individuelle Psyche beschreibt, überträgt sich auch auf unsere gemeinsame Welt. Arendt spricht von Intervallen in der Zeit – Momente zwischen einer nicht mehr bindenden Vergangenheit und einer noch nicht greifbaren Zukunft. In diesen Intervallen erfahren wir das, was nicht mehr ist und das, was noch nicht ist. Und genau dort können Freiheit und Neuanfang entstehen.

Ich erinnere mich sehr genau an die Zeit meiner persönlichen „Katastrophe“, die mittlerweile viele Jahrzehnte zurückliegt; die Zeit des völligen Zusammenbruchs meines „Systems“, aus der eine unerwartete Klarheit wuchs. Wie der schmerzhafte Verlust von persönlichen und gesellschaftlichen Gewissheiten plötzlich Raum schuf für eine Authentizität, die ich vorher nicht kannte. Das Nichts wurde zur leeren Leinwand, und ich begann, neue Linien zu zeichnen, ohne die vertrauten Muster zu wiederholen.

Den heutigen „floralen Aspekt“ finde ich als Metapher sehr tröstlich. Blumen mussten durch Dunkelheit, durch Erde, durch zahllose Widerstände. Sie müssen durch einen Prozess des Werdens, bevor sie endlich sind. Genauso wie wir.

Moving the nothing | midjourney & Luma 2025

Die Fähigkeit, mit der Leere umzugehen, sie nicht eilig zu füllen, sondern in ihr zu verweilen – das ist vielleicht das Wesentliche unserer psychischen und politischen Gesundheit. Winnicott spricht von einem „good enough holding“ – einem ausreichend guten Halten der Leere, ohne zu viel und ohne zu wenig. Mit zu viel Fürsorge ersticken wir jede Möglichkeit der Eigenständigkeit, mit zu wenig Unterstützung stürzen wir ins Traumatische.

Ebenso verhält es sich mit unserem politischen Raum: Er braucht genug Struktur, um Sicherheit zu bieten, aber genug Offenheit, um Wandel und Erneuerung zu ermöglichen. Es ist ein zerbrechliches Gleichgewicht, ein Tanz mit dem Nichts.

Als Künstlerin, nicht als Politikerin, bewege ich mich in genau diesem Spannungsfeld. Kunst ist immer auch politisch, selbst wenn sie passiv erscheint – denn sie macht sichtbar, was vorher nicht gesehen wurde. Sie nimmt den Raum zwischen den Dingen in Anspruch, hält die Leere aus und transformiert sie. Meine kreative Arbeit ist eine Form des aktiven Wartens, des bewussten Nichtstuns, das paradoxerweise zu tiefem Tun wird.

Das vermeintliche Nichts ist niemals wirklich leer – es ist schwanger mit Möglichkeiten, voller Potenzial, das nur darauf wartet, Form anzunehmen:

Jede Pause zwischen den Worten.
Jede Lücke im Verständnis.
Jeder Bruch in der Kontinuität unseres Lebens.

Diese scheinbaren Absenzen sind keine Mängel oder Defizite, die wir sofort füllen müssten. Sie sind fruchtbare Felder, Orte der Rückbesinnung und des Neubeginns, an denen etwas entstehen kann, das vorher undenkbar erschien.

Bei Arendt ist diese Fähigkeit, im „Zwischen“ zu handeln, die Grundlage der Freiheit selbst. Nicht als souveräner Willensakt, sondern als gemeinsames Erschaffen im Raum zwischen Menschen. Ähnlich wie Winnicott darauf besteht, dass das Kind ein Übergangsobjekt weder völlig erschafft noch völlig vorfindet – es ist beides zugleich, und genau darin liegt seine Kraft.

Die Leere ist kein Horror, kein Feind, den wir bekämpfen müssen. Sie ist ein Segen, ein notwendiger Raum für das, was kommen will, wenn wir nur den Mut haben, sie auszuhalten und in ihr zu verweilen.

Flowering nothing 2 | midjourney 2025