Wir sind uns selbst das größte Rätsel
Nur etwa fünf Prozent unserer geistigen Prozesse sind uns bewusst zugänglich. Der Rest – eine gewaltige, unsichtbare Landschaft aus Erinnerungen, Impulsen, verdrängten Gefühlen und archetypischen Mustern – bleibt im Verborgenen. Eine Abwesenheit, die mitten in uns liegt und doch unser Handeln, Fühlen und Denken maßgeblich steuert.
Das Unbewusste ist vielleicht die mächtigste Form der Abwesenheit, die wir kennen. Es ist das, was wir nicht sehen können und doch immer mit uns tragen. Es ist das, was zwischen unseren Worten liegt, was sich in unseren Träumen manifestiert, was in unseren Kunstwerken aufscheint, ohne dass wir es beabsichtigen.
Die verborgenen Regisseure
Sigmund Freud nannte es den „psychischen Apparat“ – jenen Teil unserer Psyche, der unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt. Er verglich es mit einem Eisberg, dessen sichtbare Spitze nur einen Bruchteil seiner tatsächlichen Größe offenbart. C. G. Jung erweiterte dieses Bild um die Dimension des kollektiven Unbewussten – einer geteilten psychischen Tiefenstruktur, die uns alle verbindet.
Was bedeutet es für unser Selbstverständnis, wenn ein Großteil dessen, was uns ausmacht, abwesend bleibt? Wenn die Beweggründe unserer Handlungen, die Wurzeln unserer Ängste und die Quellen unserer Kreativität im Dunkeln liegen?
Es ist eine Form der Abwesenheit, die paradoxerweise immer präsent ist. Eine Leere, die voller Leben steckt.
Die Sprache des Abwesenden
Mein künstlerisches Schaffen war immer ein Dialog mit dem Unsichtbaren. Die asemischen Schriftzüge in meiner Installation „Hört eh niemand zu“ – jene unlesbaren, handschriftähnlichen Linien, die Sprache imitieren, ohne tatsächlich etwas zu sagen – waren vielleicht ein unbewusster Versuch, dem Unbewussten eine Form zu geben.
Ein Großteil meiner Kreativität findet in Art Journals statt – einer intuitiven und spontanen Kunstform IN und MIT Büchern, die aus dem Nichts entsteht und meist vor Blicken im Außen verborgen bleibt. Diese Seiten sind wie ein Dialog mit dem Unbewussten, eine Unterhaltung ohne Worte, die sich in Farben, Texturen und Formen ausdrückt. Was dort entsteht, folgt keinem Plan, keiner Struktur, sondern fließt aus einem Ort jenseits des bewussten Denkens.
Denn das Unbewusste spricht nicht in geordneten Sätzen. Es flüstert in Bildern, in körperlichen Empfindungen, in plötzlichen Einfällen, in wiederkehrenden Mustern.

Die fruchtbare Leere
Ich finde die Vorstellung tröstlich, dass unser Bewusstsein nur die Spitze eines viel größeren, tieferen Selbst ist. Dass wir mehr sind als das, was wir von uns wissen. Dass hinter unseren bewussten Gedanken ein reiches, vielfältiges inneres Leben pulsiert.
Die Neuropsychologie bestätigt: Kreative Einfälle entstehen oft gerade dann, wenn wir nicht bewusst nachdenken. Wenn wir unter der Dusche stehen (es gibt sie: shower gods!), beim Waldspaziergang, im Halbschlaf. Es ist, als würde das Unbewusste in diesen Momenten der Entspannung an die Oberfläche steigen und uns Geschenke überreichen – Lösungen für Probleme, an denen wir lange vergeblich gearbeitet haben.
Die besten Ideen kommen selten, wenn ich sie bewusst suche. Sie erscheinen unvermittelt, wie aus dem Nichts, in Momenten der Ablenkung oder der Stille. Und doch kommen sie nicht wirklich aus dem Nichts. Sie kommen aus dem Unbewussten – jenem reichen Reservoir an Erfahrungen, Verbindungen und Mustern, das ständig im Hintergrund arbeitet, ohne dass wir es bemerken.
Das maschinelle Unbewusste
In einem faszinierenden Parallelprozess haben auch künstliche Intelligenzen eine Art „Unbewusstes“ – jenen unzugänglichen Teil ihrer Funktionalität, der uns verborgen bleibt. All das Training der Modelle, die Milliarden an Datenpunkten, die sie geformt haben, sind uns nicht bewusst zugänglich. Wir steuern und navigieren dieses verborgene Wissen von außen, ohne es vollständig zu durchschauen.
Wenn ich mit generativer KI arbeite, wenn ich Bilder oder Texte erschaffe, ist es ein Dialog mit diesem maschinellen Unbewussten. Ein Tanz mit einem System, dessen tiefer liegende Funktionsweise sich mir entzieht, das aber auf meine Impulse reagiert und mich oft überrascht.
Es ist eine neue Art des kreativen Austauschs mit dem Abwesenden – nicht mehr nur mit meinem eigenen Unbewussten, sondern mit einer kollektiven, digitalen Form der Abwesenheit.
Der Kreis schließt sich
In diesem 30-tägigen Projekt über die Abwesenheit als Form der Präsenz konnte ich nicht umhin, auch diese fundamentalste aller Abwesenheiten zu erforschen – die Abwesenheit großer Teile unseres Selbst aus unserem bewussten Erleben.
Es ist eine Abwesenheit, die sich durch alle Aspekte unseres Lebens zieht. Eine Abwesenheit, die unsere Beziehungen färbt, unsere kreativen Prozesse nährt, unsere Ängste und Hoffnungen formt.
Und doch ist es eine Abwesenheit voller Leben, voller Dynamik, voller Möglichkeiten. Es ist ein Nichts, das alles enthält.
Vielleicht ist es auch ein Trost. Ein Trost zu wissen, dass wir nie ganz allein sind. Dass selbst in unseren einsamsten Momenten, wenn wir ins scheinbare Nichts sprechen, ein Teil von uns immer zuhört. Ein Teil, der jenseits unseres bewussten Zugriffs liegt und doch untrennbar mit uns verbunden ist.
Das Unbewusste – die größte und doch intimste Abwesenheit in uns.
Schreibe einen Kommentar