Die Zeitlichkeit des Nichts
Das Nichts ist weder statisch noch formbar. Es verweilt nicht, es bleibt nicht. Sein Wesen ist Durchgang, eine Schwebe zwischen dem, was war, was ist und dem, was sein könnte. Das Nichts dehnt sich nicht aus wie eine Substanz, es ist keine Leere, die gefüllt werden muss. In seinem Innersten trägt es die Möglichkeit der Zeit in sich, ohne je ganz in ihr zu verhaftet zu sein. Es ist weder Anfang noch Ende, sondern eine sich öffnende Schwelle, ein Ort, an dem das Vergangene widerhallt, während das Kommende noch nicht greifbar ist.
Vielleicht ist es neben all vielen anderen Aspekten die Zeitlichkeit, die das Nichts so schwer fassbar macht? Es entzieht sich dem Zugriff, bleibt unbestimmt, weil es sich nie vollständig in der Zeit manifestiert. Es ist nicht das, was vergeht, sondern das, was sich entzieht. Ein stilles Pulsieren, das nicht im Rhythmus der Uhren schlägt, sondern in Zwischenräumen atmet – dort, wo das Jetzt sich auflöst und die Zukunft noch nicht begonnen hat.

Diese Zeitlichkeit, eine Art eigenes Sein, wird sich vielleicht erst später eventuell als Möglichkeit offenbaren.
Mein Lieblingsgedicht von Rilke passt hier perfekt dazu:
Über die Geduld – Rainer Maria Rilke (1902)
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen –
und dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
Unter diesem Link kannst du Rilkes Gedicht wunderbar eingesprochen von Fritz Stavenhagen anhören!
Ich suche mit meiner Beschäftigung über das Nichts, meinen 30 Days of Absence as a Sign of Presence keine Antwort, höchsten Antworten. Ich versuche immer, „die Fragen selber lieb zu haben„. Und vielleicht ist es gerade die zeitlose Stille, in der sich Fragen am tiefsten entfalten – leise, unaufdringlich, ohne den Druck sofortiger Antworten.
Vielleicht ist die zeitlose Stille nichts anderes als die hörbare Form des Nichts?
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